Die Konfrontation mit dem „Fremden“ ist ein Themenfeld, das weder in der politischen Diskussion noch in der Kulturwissenschaftlichen Forschung etwas von seiner Faszination eingebüßt hat. So kreist die aktuelle Debatte über „interkulturelle Beziehungen“, um „Migration“ und „Integration“ zumeist auch um die Tatsache, dass das Anderssein des „Anderen“ eine in gleicher Weise bestürzende wie auch faszinierende Erfahrung sein kann. Für diese doppelte Herausforderung hat sich der Begriff „das Fremde“ nicht nur etabliert ,sondern er kann auch nach wie vor als besonders treffend bezeichnet werden. Literatur und literarische Forschung haben hier jedoch ein gewichtiges Wort mitzureden, denn gerade die Reiseliteratur birgt historische Erfahrungen, die durchaus zur Überwindung von aktuellen Befangenheiten beitragen können. Dies ist besonders bei Beschreibungen von Reisen in „fremde“ Kulturen zu erwarten. In ihrem typischen Zwiespalte von Aufbruchstimmung und Desillusionierung, von eigenkultureller Bindung und dem Mut zur Grenzüberschreitung decken Reisenberichte ein zentrales Problemfeld der „Fremderfahrung“ ab. Gerade der Versuch einer Übersetzung des Fremden in Eigenes gibt Anlaß genug, nach dem Grad von Offenheit und Begrenztheit des Reisenden gegenüber der fremden Kultur zu fragen.
Wie werden Ideen, Lebensstile und kulturelle Praktiken im Reisebericht vermittelt und vor dem Hintergrund eigener historischer Traditionen aufgenommen und umgeformt? Welche Folgen haben diese Prozesse für die Konstruktion nationaler Identitäten? Worin bestehen die Möglichkeiten einer literarischen Verarbeitung von Fremdheit? Handelt es sich um Strategien der Öffnung oder um Strategien der Abgrenzung? Diesen Fragen möchte die Untersuchung anhand des aus der Handschrift neu transkribierten Reiseberichts von Ernst Barlach über seine Reise nach Russland im Jahre 1906 nachgehen.