(Moderne) Kunst und Religion im 20. Jahrhundert. Aspekte vom Expressionismus bis in die Gegenwart mit 13 Installationen in 12 Stadtkirchen Hannovers und einer Ausstellung in der Marktkirche.
Kunst und Religion besitzen eine besonders enge Affinität. Aber sowohl in der Geschichte der Kunst wie im gegenwärtigen Kunstschaffen gehen die Beziehungen über die funktionalen Bestimmungen oder religionsphäno-menologischen Zuweisungen weit hinaus. Selbst da, wo sich ein Künstler explizit zum Atheismus bekennt, sagt dies nichts über die möglicherweise in seiner Kunst verobjektivierte Religiosität aus. Denn religiöse Implikationen sind in einem Kunstwerk immer dann zu diskutieren, wenn in ihm die Dimension des Rückbindens (religere) an einen unbeeinflussbaren Grund zu erkennen ist.
Der sakrale Raum hat sich vom profanen Raum weit fortentwickelt. Er sollte ursprünglich dem gläubigen Mitglied der “ecclesia” nicht nur durch Höhe, Weite, Dekor und architektonische Vertikalbewegung das Heraustreten aus irdischer Begrenzung sinnlich fassbar machen, sondern zudem einen Standpunkt eröffnen, der deutlich außerhalb des eigenen Alltags liegt. Bis heute ist der Kirchenraum in besonderem Maße der Ort geblieben, an dem der Mensch ganz mit sich selbst eins sein kann und sich doch vor einem Anderen zu begreifen vermag. Für die Rezeption von Kunst bietet der Kirchenraum daher nahezu ideale Voraussetzungen.
Angefangen bei einfachem, der Volkskunst zuzurechnendem kirchlichem Schmuck bis hin zu unvergleichlichen Meisterwerken ist die Kunst des Abendlandes geprägt von einer unglaublichen ikonographischen und stilistischen Fülle an Werken, die sich auf den sakralen Raum Kirche beziehen. Die im christlichen Kontext entstandenen Werke sind demzufolge meist an den Auftraggeber Kirche gebunden gewesen. Nur die moderne Kunst ist in dem Maße elementar und radikal, in dem sie sich von jeglichen Vorgaben unabhängig gemacht und von jeglichem direkten Einfluss emanzipiert hat.
Nun gilt aber nicht nur die kirchliche Kunst als jener bewusste Schritt zwischen der Erfahrung der konkreten Welt und dem Entwurf einer Gegenwelt, als Schritt, der in der “Modellation von Welt” (Lotman) das ersehnte Andere, das gesuchte Ganze, das verlorene Paradies sichtbar zu machen sucht, sondern auch die moderne Kunst.
Der Ausstellung “Lost Paradise Lost” geht es vor allem darum, der Beobachtung zu folgen, dass gerade auch die moderne Kunst Erfahrungen von Ursprungsereignissen wie Liebe, Geburt, Zerstörung und Tod, die ehemals ausschließlich kirchlich-religiös besetzt waren, immer neu chiffriert Realität werden lässt. Je intensiver die Wirkung solcher Kunstwerke im Sinne einer intuitio oder memoria verdrängter Erfahrungen ist, um so deutlicher wird man die Religiosität dieser Bilder verstehen.
Ein nicht unerheblicher Teil zeitgenössischer Kunst gründet sich weniger auf reale Präsenz, als vielmehr auf alles, was mit Bewegung, Energie, Dynamik und Durchgang zu tun hat. Alles ist fließend, es gibt keinen Bestand, keinen Halt mehr, jedes Ding wird so oft umgedreht, dass es immer neu von einem veränderten Standpunkt aus betrachtet werden kann, das Objekt zerfällt, entledigt sich der eigenen Formulierung, nichts ist von Dauer, nichts von bleibender Qualität: Künstler und Rezipienten befinden sich somit in einer Phase “flexibler Akkumulation” (David). Wenn überhaupt, dann lässt sich Bedeutung nur noch aus Beziehungen und nicht mehr aus den Dingen selbst ableiten. Die Ambiguität, die Qualität der Mehrdeutigkeit wird zum obersten künstlerischen Prinzip erhoben.
Gleichwohl verlangen wir nach monumentalen Symbolen, die sich jeder Mehrdeutigkeit verschließen, die verlässlich und eindeutig ein Wertespektrum umschreiben und sich selbst in die Zukunft projizieren. Diese Werke finden sich zumeist im Bereich der klassischen Moderne und bei solchen zeitgenössischen Künstlern, die sich auf etwa den gleichen Ursprung berufen. Das einseitige Hervorheben solcher Werke birgt aber immer auch die Gefahr einer sentimentalen Rezeptionshaltung Vorschub zu leisten, deren regressive Auswirkungen leicht unterschätzt werden. Was also ist zu tun?
“Lost Paradise Lost” möchte die Beständigkeit des metaphysischen Anteils in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts thematisieren und dabei eine Brücke schlagen zwischen dem Anliegen der Kirche einerseits und den visionären Elementen der Kunst andererseits. Die Frage, ob mit einer solchen Ausstellung der Graben, der sich über hunderte von Jahren zwischen Altar und Museum geöffnet hat, überwunden werden kann, darf jedoch nicht nur von Künstlern, Kunsthistorikern und Theologen, sondern sie muss von den Besuchern der Ausstellung beantwortet werden.
Die Ausstellung nimmt ihren Ausgangspunkt in der Marktkirche Hannover und zeigt dort mit 35 Werken von 20 Künstlern einige relevante Aspekte religiös inspirierter Kunst des 20. Jahrhunderts. Zu sehen sind Werke von Hans Arp, Ernst Barlach, Stephan Balkenhol, Joseph Beuys, Hermann Blumenthal, Jürgen Brodwolf, Emil Cimiotti, Fritz Cremer, Jan Fabre, Wieland Förster, Bernhard Hoetger, Alfred Hrdlicka, Georg Kolbe, Käthe Kollwitz, Markus Lüpertz, Gerhard Marcks, Olaf Metzel, Edwin Scharff, Klaus Staeck, Günther Uecker. Die Auswahl reicht vom Beginn des Jahrhunderts bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Ein unbegrenztes Thema läßt sich auch räumlich nur schwer eingrenzen. So erstreckt sich die Ausstellung über die Mauern der Marktkirche hinaus in den städtischen Raum hinein und zeigt 13 weitere künstlerische Einzelprojekte in 12 Stadtkirchen Hannovers. Zu sehen sind dort: Marina Abramović in der Zachäuskirche, Eduardo Chillida in der reuzkirche, Jan Fabre in der Neustädterkirche, Günther Förg in der Johanniskirche, Antony Gormley in der Lutherkirche, Stephan Huber in der Willehadikirche, Via Lewandowski auf dem Gartenfriedhof, Markus Lüpertz in der Matthäuskirche, Wolfgang Nestler in der Bugenhagenkirche, Hermann Nitsch im Stephansstift, Katharina Sieverding und Joseph Zehrer in der Markuskirche, Günther Uecker in der Aegidienkirche.