Jürgen Doppelstein, Heike Stockhaus: Barlach und Russland.

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Waren die dominierenden Merkmale einer deutschen vorrevolutionären Russland-Rezeption noch primär als mystisch und irrational begründete Beschreibungsversuche der großen russischen Seele zu verstehen, die mit stark an der Dostojewski-Lektüre orientierten Vokabeln wie „uferlos“, „elementar“, „abgründig“ und „urchristlich“ operierte, so hat das Verschwinden der Sowjetunion besonders im Westen das Interesse an der Geschichte Russlands ähnlich belebt wie einst der Untergang des Zarenreiches. Eine Fülle von jüngeren kulturwissenschaftlichen Projekten und Publikationen versucht nun das Fremde und das Andere in der Geschichte der gegenseitigen Sicht der Völker aufeinander zu analysieren, wovon sicher das von Lew Kopelew begründete Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder in erster Reihe zu erwähnen wäre. Es scheint, als würde heute in keinem Land die Vergangenheit so überdeutlich in die Gegenwart hineinreichen wie gerade in Russland. Ein solches Phänomen erweckt vor allem dann allgemeines Interesse, wenn sich, wie im Falle des Künstlers und Dichters Ernst Barlach, eine authentische Spur in das Russland vor der Revolution zurückverfolgen läßt. Für die Ausstellung „Barlach und Russland“ und das sie begleitende Katalogbuch geht es vorwiegend um die Erschließung und das ausschnitthafte Sichtbarmachen des künstlerischen und literarischen Ertrags einer vor fast einhundert Jahren von Berlin über Warschau und Kiew nach Charkow in der heutigen Ukraine verlaufenen Eisenbahnreise, die Ernst Barlach im Spätsommer 1906, also ein Jahr nach der ersten russischen Revolution und 11 Jahre vor der Oktoberrevolution, zusammen mit seinem jüngeren Bruder Nikolaus, unternommen hat. Diese Reise sollte zu einem radikalen Einschnitt in Barlachs künstlerisches und literarisches Werk führen und ästhetische Kräfte freisetzen, von denen der Künstler vorher nicht zu träumen wagte. Während dieser Reise und im direkten Reflex darauf sind eine große Zahl an Zeichnungen und Skizzen, plastischen Werken und ein einzigartiges literarisches Manuskript mit dem Titel „Eine Reise ins Herz des südlichen Rußland“ entstanden. Die einschneidende Bedeutung der Russlandreise zeigt sich in ihrer wahren Tiefe aber erst nach Barlachs Rückkehr in einer Fülle von bildnerisch und literarisch niedergelegten Werken. Dieser Einfluss der Reise wird sich bis in das Spätwerk hinein erhalten und festigen. In einer ausführlichen Materialdokumentation soll nun das während und nach der Russlandreise niedergelegte bildnerische und literarische Material erstmals thematisch gebündelt der Öffentlichkeit in seiner gesamten Breite vorgestellt werden. Dabei geht es der Ausstellung, aber auch dem Katalog, weniger um eine enzyklopädische Vollständigkeit und die Aufzählung aller russlandspezifischen Motive in Barlachs Werk als vielmehr um die Darstellung jener künstlerischen Such- und Kreisbewegungen, die sich in der Folge direkt oder indirekt auf dieses zentrale Reiseerlebnis beziehen lassen. Erstmals wird im Zusammenhang mit dieser Ausstellung das ‘Russlandmaterial’ Barlachs in allen seinen wichtigen Elementen erfasst und einer kritischen Wertung unterzogen. Dazu gehört vor allem die Verfolgung einer wissenschaftlichen Methode, die nicht nur das Wesen und den Stellenwert der Russlandreise innerhalb des Schaffens von Ernst Barlach und die Bedeutung dieser Reise für dessen weitere dichterische und künstlerische Entwicklung herausarbeitet, sondern die auch die geistesgeschichtlich relevanten Aspekte der deutschen Russlandrezeption bis zum ersten Weltkrieg thematisiert. Aber auch die unterschiedlichen Lesarten und Bewertungen dieser Reise, wie sie bisher von Wissenschaftlern in Ost und West erarbeitet wurden, sollen in einem kritischen Anhang in Beispielen als Rezeptionszeugnisse ganz eigener Art vorgestellt werden.
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